Eine Sache, die für Studienanfänger oft schwierig nachzuvollziehen ist, ist das so genannte „Abstraktionsprinzip“. Es ist noch komplizierter als das Wort selbst und hat schon so manchen Juristen – auch im fortgeschrittenen Stadium – zum Verzweifeln gebracht.
Ich fange mal mit zwei Beispielen an: Sie sitzen im Autohaus und interessieren sich für ein Auto, schauen es an und verhandeln ein wenig. Dann sitzen Sie beim Verkäufer im Büro, er macht den Kaufvertrag fertig, Sie beide unterschreiben den Kaufvertrag, Sie überweisen das Geld schnell per Handy, stehen auf und geben sich die Hand und der Verkäufer sagt „Glückwunsch“. Wem gehört das Auto? Antwort: Dem Autohaus. Oder ein anderes Beispiel: Sie kaufen im Supermarkt ein paar Dinge ein. Die Kassiererin zieht die Waren über den Scanner, Sie packen die Waren in Ihre Tasche, und wenn Sie bezahlen sollen, merken Sie, dass Sie Ihr Portemonnaie vergessen haben und rennen mit ihrer vollen Tasche weg. Wem gehören die Waren? Antwort: Ihnen.
Im deutschen Recht ist Eigentümer derjenige, dem etwas gehört. Damit man Eigentümer einer Sache wird, reicht es aber nicht aus, einen Kaufvertrag abzuschließen. Eigentum an solchen Dingen bekommt man durch „Einigung und Übergabe“. Nehmen wir wieder das Auto: Nachdem Sie den Kaufvertrag unterschrieben und sich mit dem Verkäufer die Hand gegeben haben, gehen Sie mit ihm zum Auto. Dann drückt Ihnen der Verkäufer den Schlüssel in die Hand und lässt Sie einsteigen. Auch wenn er das nicht so deutlich sagt: Mit dieser Geste bringt er zum Ausdruck, dass das Auto nun Ihnen gehören soll. Es wurde ihnen übergeben. Damit haben Sie das Eigentum erworben.
Sie schließen also zuerst einen Kaufvertrag. Inhalt dieses Kaufvertrags ist: Der Verkäufer muss Ihnen das Eigentum an dem Auto besorgen, und Sie müssen dem Verkäufer den Kaufpreis bezahlen. Dann gibt es weitere Verträge, nämlich einen Übereignungsvertrag bezüglich des Autos und (um es einfach zu lassen) einen Übereignungsvertrag bezüglich des Geldes. Ein Kaufvertrag ist deswegen im deutschen Recht nur ein „Verpflichtungsgeschäft“, denn Käufer und Verkäufer werden zu bestimmten Dingen verpflichtet, und die Übergabe des Autos und des Geldes sind „Verfügungsgeschäfte“, denn da wird über das Eigentum an diesen Sachen bestimmt, damit am Ende der Käufer Eigentümer des Autos wird und der Verkäufer Eigentümer des Geldes. Diese Verträge sind abstrakt voneinander.
Ganz schön verkopft, oder? Aber es kann in manchen Situationen hilfreich sein. Nehmen wir mal an, der Verkäufer im Autohaus war mittags mit seinen Kollegen im Wirtshaus, weil einer Geburtstag hatte. Nach einigen Bier war er etwas angetrunken und vielleicht in einem Zustand, den man als geschäftsunfähig bezeichnet und in dem man keine Autos mehr verkaufen sollte. Nach dem Händeschütteln bleibt er am Schreibtisch sitzen, und das Auto wird Ihnen vom Hausmeister übergeben. Der Kaufvertrag ist dann vielleicht unwirksam, aber es gibt auch eine gute Nachricht: Das Auto ist trotzdem Ihres.
Selbstverständlich ist nicht alles so einfach, wie ich es hier darzustellen versuche, und wir können hier nicht mehrere Semester Uni in einem Blogbeitrag zusammenfassen. Das Abstraktionsprinzip ist jedenfalls einmalig auf der Welt und zieht sich durch das gesamte deutsche Zivilrecht.